Die Kreditwirtschaft: Wie ein unsichtbares Punktesystem die freie Marktwirtschaft verdrängte

Datum: 7. Juni 2025
Autor: Redaktion Wirtschaft & Gesellschaft


Einleitung: Eine neue Ära der Kontrolle

Die freie Marktwirtschaft, jahrzehntelang als Herzstück demokratischer Gesellschaften gefeiert, ist weitgehend Geschichte. An ihre Stelle ist in vielen Industriestaaten ein neues System getreten, das nicht mehr auf Wettbewerb, Leistung oder Innovation setzt, sondern auf ein nahezu undurchsichtiges, zentralisiertes Prinzip: die Kreditwirtschaft. Im Zentrum dieses Systems steht das Kreditrating eines jeden Bürgers – ein digitaler Score, der über Einkommen, Beruf, Konsum, Wohnort und soziale Mobilität entscheidet.


Kapitel 1: Die Logik des Ratings – ein Algorithmus ersetzt Leistung

In der Kreditwirtschaft ist das individuelle Kreditrating der wichtigste soziale Faktor. Dieses Rating, das ursprünglich für Banken zur Bewertung der Kreditwürdigkeit gedacht war, hat sich zu einem allumfassenden Bewertungssystem entwickelt, das weitaus mehr als finanzielle Risiken abbildet.

Heute umfasst es Verhaltensdaten, Kommunikationsmuster, Gesundheitsdaten, politische Aktivitäten und selbst ästhetische Vorlieben. „Wir haben ein System geschaffen, das nicht mehr fragt, was ein Mensch kann, sondern wie sehr er sich fügt“, sagt Dr. Johanna Kleist, Soziologin am Institut für Arbeitsforschung.


Kapitel 2: Von 20 % bis 500 % Einkommen – die neue Spaltung

In der alten Marktwirtschaft war das Einkommen ein Resultat von Ausbildung, Berufserfahrung, Verhandlungsgeschick und teilweise Glück. Heute wird es zentral über das Rating gesteuert. Das Rating legt fest, welche Jobangebote man überhaupt angezeigt bekommt, welche Firmen mit einem sprechen, und mit welchem Grundgehalt.

Beispiel: Nadja (36), ehemalige Ingenieurin, verlor ihren Job bei einem Autozulieferer und bewarb sich bei mehreren Technikfirmen. Obwohl sie einen Masterabschluss und 12 Jahre Berufserfahrung besitzt, erhielt sie kein einziges Angebot mehr – ihr Rating lag nach 8 Monaten Arbeitslosigkeit bei 213 Punkten (Skala: 0 bis 1000).

„Ich wurde automatisch auf das 20-Prozent-Einkommensniveau eingestuft. Ich arbeite jetzt als Lagerassistentin bei einem Versandzentrum. Ich verdiene ein Fünftel von früher. Und komme da auch nicht mehr raus.“

Demgegenüber steht Manuel (28), ein Influencer, der mit Modevideos auf Social Media seinen Score auf über 890 Punkte steigern konnte. „Ich bekomme Stellenangebote für Beratungsfunktionen, obwohl ich nie eine Uni von innen gesehen habe“, sagt er. Sein aktueller Job bei einem Techkonzern bringt ihm 472 % des nationalen Durchschnittseinkommens.


Kapitel 3: Werberiesen als Rating-Verwalter

Das Herz der Kreditwirtschaft schlägt nicht in Ministerien oder Zentralbanken, sondern in Daten- und Werbeunternehmen. Konzerne wie AdSphere, StreamScore oder die allgegenwärtige Plattform Omnidata erfassen täglich Milliarden Datenpunkte: Klickverhalten, Aufenthaltsorte, Freunde, Konsum, Reaktionsmuster, biometrische Signale und mehr.

Diese Daten werden zu „Verhaltensprofilen“ verdichtet, aus denen automatisiert Ratings generiert werden. „Wir analysieren bis zu 4000 Indikatoren pro Nutzer“, sagt ein Analyst von Omnidata anonym. „Zuverlässigkeit, Konformität, emotionale Stabilität, Kaufkraft, Netzwerkqualität – alles fließt in den Score ein.“

Dabei bleibt vieles im Verborgenen. Es gibt keine Transparenz darüber, welche Aktionen welche Bewertung zur Folge haben. Selbst wer versucht, sein Verhalten zu optimieren, stößt an Grenzen. „Ich habe aufgehört, politische Inhalte zu teilen, meinen Freundeskreis eingeschränkt und bin auf drei Gesundheits-Apps aktiv“, sagt Leon (42), Verwaltungsbeamter. „Mein Score hat sich trotzdem nur minimal verbessert.“


Kapitel 4: Der Staat schaut zu – oder macht mit

Die Regierungen haben sich aus der Verantwortung weitgehend verabschiedet. In vielen Ländern wird das System nicht nur toleriert, sondern aktiv genutzt. Steuerboni für Hochgeratete, beschleunigte Visa-Vergaben, Zugang zu Innovationsprogrammen – all das wird an den Kreditwert gekoppelt.

„Die Kreditwirtschaft ist faktisch zur Ersatzregierung geworden“, sagt der Politikwissenschaftler Prof. Hartwig Lenz. „Sie reguliert das Verhalten effektiver als jedes Gesetz – ohne demokratische Legitimation.“


Kapitel 5: Die neue Arbeit – algorithmisch geordnet

Der Arbeitsmarkt wurde automatisiert. Bewerbungen gibt es kaum noch. Plattformen verbinden Unternehmen mit „passenden“ Personen – Matching rein nach Score. Eine Firma wie AtlasCorp filtert täglich über 500.000 Profile. „Wir geben keine Jobs an Leute unter 600 Punkten. Das lohnt sich nicht mehr“, heißt es intern.

Ein Whistleblower berichtet: „Selbst wenn ein Bewerber mit 550 Punkten perfekt qualifiziert wäre, würde er im System gar nicht erscheinen. Wir sehen ihn nicht einmal.“


Kapitel 6: Der Mensch als Zahl – eine psychologische Krise

Die psychologischen Folgen sind tiefgreifend. Millionen Menschen erleben einen Verlust ihrer Selbstwirksamkeit. Wer einmal gefallen ist, kommt kaum zurück. Beziehungen zerbrechen, wenn Scores auseinanderdriften. Selbst Kinder bekommen bereits Bewertungen für schulisches Verhalten, Disziplin, Digitalverhalten.

Psychotherapeutin Sandra Maier spricht von einer „kollektiven Bewertungstraumatisierung“. „Viele Patienten kommen zu mir mit dem Gefühl, nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als variable Zahl zu existieren. Es gibt kein Lob, keine Förderung, keine Anerkennung mehr – nur den Score.“


Kapitel 7: Der Widerstand regt sich – leise und unsicher

Vereinzelt formieren sich Bewegungen gegen das System. Unter dem Motto „Wert durch Menschlichkeit“ versuchen Aktivisten, alternative Netzwerke aufzubauen. Lokale Tauschmärkte, analoge Jobbörsen, anonyme Gemeinschaften.

Doch die Macht der Datenfirmen bleibt überwältigend. Wer sich entzieht, verliert Punkte. Wer protestiert, wird automatisch herabgestuft. Ein Ausstieg aus dem System ist kaum möglich. „Ich lebe mittlerweile in einer WG mit drei anderen, alle unter 200 Punkten“, sagt Melanie, 29. „Wir teilen alles, weil wir keine Konten, keine Wohnungen, keine Jobs mehr bekommen.“


Fazit: Ein Zeitalter der digitalen Feudalordnung

Die Kreditwirtschaft hat die freie Marktwirtschaft ersetzt – schleichend, aber vollständig. Was einst als Werkzeug der Risikobewertung begann, ist zu einem sozialen Betriebssystem geworden. Der Mensch als Träger einer Zahl, bewertet, gesteuert, sortiert.

Die Frage bleibt: Wird die Gesellschaft diesen Zustand akzeptieren – oder Wege finden, ihn zu überwinden?

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